From: "Günter Hofmann" <Guenter.Hofmann(at)t-online.de
To: "COL-Rundbrief" <coleoptera(at)ntomologie.de
Sent: Saturday, June 14, 2003 11:44 PM
Subject: [COL] Chrysomela vigintipunctata Massenflug


Günter Hofmann
Stockstadt/M.

Liebe Kollegen,
eine Lehrstunde zum Thema "Ausbreitung von Insekten" erhielt ich am 30.05.2003 am Campingplatz Suleica am Mittelrhein n Aßmannshausen. Nach einer anstrengenden Klopftour in den Eichen-Niederwäldern am Rhein ausgedörrt konnte ich zusammen mit Freund Günter Flechtner bei einem zischenden Weißbier (ca. 19.00 Uhr) beobachten, dass vom Rhein her irgendein ca. 1 cm großer Käfer einer nach dem anderen ca. 2 m über unsere Köpfe und über das Wirtshausdach hinweg den Hang hinauf Richtung Osten flog. Insgesamt konnten wir so innerhalb einer halben Stunde zwischen 100 und 200 Tiere beobachten, bis sich endlich einer in Griffnähe verirrte. Unsere Überraschung war groß, als sich herausstellte, dass es sich dabei um Chrysomela vigintipunctata handelte. Natürlich tauchte die Frage auf, wo die vielen Tiere denn herkämen. Unsere Überlegungen gingen natürlich zum nahen Rhein, wo sicher haufenweise irgendwelche Weiden herumstehen würden. Dem war aber nicht so. Am Rhein gibt's dort nur Wasser - Dreckufer - Straße - Eisenbahn, keine Weiden. Dafür entdeckten wir beim Abmarsch zum Auto nur 100 m vom Wirtshaus entfernt die Quelle: dort stand neben einem kleinen Bach die weit und breit einzigen nicht mal mannshohen schmalblättrigen Weidenbusch, der übersät war mit Chrysomela-Puppen und frischgeschlüpften Imagines. Diese machten sich alsbald auf, in Richtung auf besagtes Wirtshaus abzuheben. Der Busch selbst war etwa zur Hälfte bis 2/3 kahlgefressen. Wo die Tiere dieser Population wieder neues Siedlungsland fanden bzw. ob überhaupt, blieb uns verborgen. Da es in dieser Richtung erstmal bergauf geht in den Taunus, wird es sicher einige Kilometerchen des Fluges brauchen. 2 Wochen später, am 13.06. war besagter Busch jedenfalls absolut frei von Chr. vigintipunctata, nur noch leere Puppenhüllen zeugten von ihrem Werk. An Ort und Stelle geblieben ist jedenfalls kein einziger! Dafür hatte sich aber eine Chrysomela cuprea eingefunden, die die abgefressene Weide noch für einen würdigen Fressplatz hielt (könnte aber auch schon vorher dagewesen sein).

Was lernen wir daraus?
1. Bei zusagenden Bedingungen können Insekten auf kleinstem Raum gewaltige Populationen aufbauen.
2. Bei Erschöpfung der Nahrungsquelle (vielleicht aber auch so auf Grund angeborener Verhaltensweisen) entsteht ein enormer Ausbreitungsdruck, der bei fliegenden Arten zu einem richtigen Massenflug werden kann.
3. Danach ist die ganze Population irgendwohin dispergiert, für den Sammler das momentane Massentier einfach weg. Es kann dann vielleicht mal mühsam in einzelnen Exemplaren wieder abgeklopft werden. 

Ist natürlich alles nichts Neues! Zur rechten Zeit am rechten Ort ist für den Coleopterologen schon immer die Zauberformel gewesen, gute und seltene Stücke zu erbeuten. Aber dass man so mit der Nase drauf gestoßen wird, wie das abläuft, ist schon mal ein schönes Erlebnis.

P.S. Ein Grund, warum ich diese Beobachtung in die Runde schicke ist auch, dass ich mich erinnere, dass vor ein oder zwei Jahren schon jemand wegen Chrysomela vigintipunctata-Massenflug im Netz nachgefragt hat, ich weiß nur nicht mehr, wer. Ich hoffe, dass ich den Autor damit auch erreiche!


Günter